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NOTWIST: Voll
auf die Zwölf!
INTRO Nr. 25 - Juni '95
Musik für abfahrende
Züge. Schwermut verlassener Bahnsteige. Ein Nachtzug. Passagiere im
Halbschlaf. Gedanken sind Blitzlichter. Die wartende Angespanntheit erzeugt
ein seltsam melancholisches Empfinden. Flüsternde Stille. Ein unwirklicher
Zustand. Sehnsüchtig wandern die Gedanken zurück an den Ort der
Abfahrt. Über der Szenerie liegt ein Hauch Trübsinn. Eine Atmosphäre,
als sei ein NOTWIST-Song in ihr geschrieben.
Elemente
Ungelenk bewegen sich die
Gitarren durch die Rhythmusvorgaben von Schlagwerker Martin Messerschmidt.
Gleißende Unruhe in wabernden Akkordmaßen. Wie aus dem Nichts
setzt sich auf einmal der Song in Bewegung. Zunächst nur widerwillig,
schließlich konsequent. Wie ein Zug, der langsam aus der Haltestation
rollt. Bahnhof hat immer etwas von Abschied. Wegmüssen trifft auf
Nicht-weg-wollen. Die Seele macht Tauziehen. Ebenso arbeiten NOTWIST mit
den dynamischen Extremen. Unkonventionell schwanken sie zwischen pianissimo
und fortissimo, geben auf diese Weise dem Stück den Schuß Zweifel
in die schon schmerzhafte Stimmung. Abschied trägt immer Schmerzen
aus. Der Sud selbstmitleidiger Introvertiertheit ergießt sich über
dem Geflecht der gegensätzlichen Kompositionen einer NOTWIST-Platte.
Die Musik ist traurig.
So gelingt ein Bogenschlag
von Markus Acher zu Lou Barlow. "Ich als 'sensitive charakter'", scherzt
der Sänger und Songwriter von NOTWIST, "mache mir zu allen Dingen,
die in Zusammenhang mit der Musik stehen, meinen eigenen Kopf. Dabei kommt
es sicher vor, daß ich etwas penibel in meinen Ansprüchen bin."
Der Hang zur Perfektion und ein ausgeprägtes Maß an Hypersensibilität
läßt sich auch beim SEBADOH-Frontmann beobachten, wenn er bei
kleinen Unstimmigkeiten mit Equipment um sich wirft.
Achers Lyrics kreisen - eine
weitere Parallele zu Barlow - nicht selten um die Emotion "Trennungsschmerz".
Depression wäre ein zu negativ besetztes Wort, um es als Fixpunkt
der Acher-Thematik zu benennen. Optimismus im Verhältnis jedoch schlicht
eine Fehleinschätzung. Hat da jemand "Losercore" gesagt? "Sollte unserem
musikalischen Ansatz ein Konzept innewohnen, so ist es der Versuch der
grundlegenden Loslösung von jeglicher Kategorie. Keine Einstufungen
mehr. Egal ob Crossover, Punk oder Alternative." Hochtrabende Ansprüche.
NOTWIST können sie erfüllen. Wichtigste Voraussetzung: Die musikalischen
Köpfe der Band sind Geschwister, die Brüder Micha und Markus
Acher. Genetische Einheit garantiert für intensive Expression in der
Musik. Ihr gemeinsames Zuhause: eine Weilheimer Wohngemeinschaft. Dieselben
Eltern, dieselben Interessen, "dieselben Frauen", juxt Micha. Die Gespräche
am Küchentisch kreisen zumeist um Musik. "Wie klingen, um anders zu
sein?", so die am häufigsten diskutierte Frage. NOTWIST sind auf der
Suche nach klanglichem Fortschritt. Hier eine Baß-Klarinette in den
Song einarbeiten? Wie wär's dort mit einem Banjo-Sample? Kontrabaß-Trompete-Didjeridoo?!
Alles, was nach verstaubtem Rock klingt, ein Menetekel für Schubladendenken
der Journaille. Ein Anachronismus der Rockhistorie. Also, weg damit! Den
Hörer mit Ungewohntem konfrontieren. Überraschungsmomente provozieren.
Kontraste erschaffen. Schöne Melodien mit Noise zerhacken. Häßliche,
düstere Stücke wie Phoenix aus der Asche mit Hitparadenrefrain
versetzen. Niemals "avarage" sein. Andererseits nicht zu dick auftragen,
denn weniger ist noch immer mehr. Aber die erfahrenen Musiker wissen, was
der Komposition guttut und welche Elemente das Stück überfrachten.
Historie
Die NOTWIST-Geschichte beginnt
1990 in einer oberbayrischen Dorfclique zwischen Weilheim und Landsberg.
Die Kleinstlabels in der Umgebung, "Hausmusik" und "Raffmond", schüren
so etwas wie Szenebewußtsein in der ländlichen Atmosphäre
nahe München. Im Umfeld dieser Leute - bestehend aus politisch Ambitionierten
und Musikern - lernen Acher&Acher Messerschmidt kennen. Ein Jahr später
hat sich das Bandgefüge bereits für ein reifes Debüt-Album
("The Notwist") gefestigt. "Is It Fear?" fragt Markus Acher mit dem ersten
Song, den NOTWIST auf Tonträger pressen. Es liegt von Anfang an ein
Windstoß Melancholie über den klangmalerischen Produkten der
Band. Mit "Nook" (Big Store), dem zweiten Album, schließt sich ein
großer Kreis von Hörern zusammen. Es kumulieren Vorlieben für
SLAYER und METALLICA mit Gegensätzen wie NEIL YOUNG, JOHN CALE oder
dem trüben Narzißmus eines J. Mascis'.
Letztlich leidet aber jeder
für sich selbst. Schmerz drückt sich immer anders aus, und so
erhält der NOTWIST-Sound durch die Achersche Schwermut ihren entscheidenden
Schliff zur Unverwechselbarkeit. Die Folge: fünfstellige Verkaufszahlen
einer deutschen Combo im radikal-eigenständigen Alternativbereich.
Die Oberbayern werden zu einem Phänomen.
Kollaboration
Aus der Weilheimer Dorfidylle
beginnen die Brüder, Kontakte zu anderen nationalen Musikern zu knüpfen.
Über die gemeinsame Bookingagentur kommt man mit dem Duo LOCUST FUDGE
zusammen. Schneider (HIP YOUNG THINGS) und Krite (Ex-SPEEDNIGGS, GREAT
TUNA, SHARON STONED), innovative Köpfe im Ostwestfälischen, schließen
Freundschaft mit der Oberbayern-Posse. Es kommt zur gemeinsamen Tournee,
die für alle Beteiligten in einem kreativen Happening endet. Anschließend
treten die Achers als Gastmusiker auf den Veröffentlichungen der Bielefelder/Detmolder
Bands in Erscheinung. NOTWIST kollaboriert außerdem mit heimischen
Musikern in dem Industrial-Noise-Projekt VILLAGE OF SAVOONGA. POTAWATOMI
lautet das Pseudonym für die Zusammenarbeit der Band mit dem Free-Jazz-Klarinettisten
Rudi Mahall. Markus Acher gründet RAYON. Micha Acher bekommt über
sein Studium am Münchner Musikkonservatorium ein Engagement als Trompeter
beim Bundes-Jazz-Orchester.
An einem kleinen Münchner
Theater vertonen NOTWIST das Drama "Vater, Sohn, Geist" des befreundeten
Autors Markus Braun. Und im Comicartwork von Thomas Ott findet das Trio
den geeigneten Künstler zur Verbildlichung des NOTWIST-Sounds. Dessen
Zeichentrick-Clip zu "Incredible Change Of Our Alien" befördert die
Weilheimer in die Genre-Magazine des Musik-TV.
12 (Zwölf, nicht twelve)
Der numerische Titel der
neuen NOTWIST-Produktion suggeriert dem rustikalen Norddeutschen zunächst
nur: "Voll auf die Zwölf!" Bezug nehmend auf die Intensität des
dritten Albums ist die plumpe Deutung allerdings gar nicht so abwegig.
Da ist beispielsweise die aktuelle Single, der Opener "Torture Day". Ein
Song, dessen ungeheure melodische Wucht auf der bereits erwähnten
brillanten Umgangsweise mit dynamischen Kontrasten basiert. Dem folgt "My
Phrasebook". Man hört Bomben explodieren, während das Schlagzeug
kontrapunktiv gegen den piepsigen Sprechgesang anschlägt. Im Refrain
mimen die Instrumente Harmonie, ehe sie sich - zurück in der Strophe
- wieder ins Chaos katapultieren. "Puzzle" beginnt mit einem optimistischen
Mainstreamriff, welches im Gegensatz zum vorhergehenden Stück in eine
depressive Moll-Klimax mündet. Der avisierte Song zum aktuellen Comic-Clip,
"M", schließt nach brachialem Gitarrentornado mit dem übersteuerten
Grundbeat einer Dancenummer ab. Die Liste der gegensätzlichen Stilmittel
auf "12", gerade innerhalb der Songs, ließe sich endlos fortsetzen.
Intensität ist Standard. Dem emotionalen Anteil kann man sich nur
schwer entziehen. NOTWISTs Harmonien besitzen poetische Kraft. Wieso bloß
"12" als Titel? "Ein klangvolle Zahl kann viele Erklärungen haben.
'12' ist ein Titel, der Raum für Assoziationen läßt", klärt
Markus Acher auf.
Nach den Diskurs-Ansätzen
auf dem Sprachterrain durch BLUMFELD, GOLDENE ZITRONEN oder die FLOWERPORNOES
schlingert mit NOTWIST eine deutsche Band nun auch durch klangliches Neuland.
Wohin der Weg führt, wird sich zeigen. Zugfahren bei Nacht ist ein
bißchen so, als würde man niemals ankommen. Nur die Lichter
der vorbeihuschenden Städte sind Indiz dafür, daß man sich
in der Vorwärtsbewegung befindet. Auch NOTWIST bewegen sich stetig
nach vorn. Mit dem Gefühl sehnsüchtiger Endlosigkeit in ihrer
Musik.
Discographie
"The Notwist" (Subway rec.)
1991
"Nook" (Big Store) 1992
"Johnny & Mary"-EP (Raffmond)
1993
"12" (Big Store) 1995
Darüber hinaus liegen
von allen Projekten der NOTWIST-Musiker (VILLAGE OF SAVOONGA, POTAWATOMI,
RAYON) bereits Tonträger vor.
MAILORDER: Tobi Hach, Franziskusweg
74, 82362 Weilheim, Tel./Fax.: 0881/69207.
Tim Jürgens |