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november, 26th
 
 
NOTWIST: Voll auf die Zwölf!   
INTRO Nr. 25 - Juni '95

Musik für abfahrende Züge. Schwermut verlassener Bahnsteige. Ein Nachtzug. Passagiere im Halbschlaf. Gedanken sind Blitzlichter. Die wartende Angespanntheit erzeugt ein seltsam melancholisches Empfinden. Flüsternde Stille. Ein unwirklicher Zustand. Sehnsüchtig wandern die Gedanken zurück an den Ort der Abfahrt. Über der Szenerie liegt ein Hauch Trübsinn. Eine Atmosphäre, als sei ein NOTWIST-Song in ihr geschrieben.   

Elemente   

Ungelenk bewegen sich die Gitarren durch die Rhythmusvorgaben von Schlagwerker Martin Messerschmidt. Gleißende Unruhe in wabernden Akkordmaßen. Wie aus dem Nichts setzt sich auf einmal der Song in Bewegung. Zunächst nur widerwillig, schließlich konsequent. Wie ein Zug, der langsam aus der Haltestation rollt. Bahnhof hat immer etwas von Abschied. Wegmüssen trifft auf Nicht-weg-wollen. Die Seele macht Tauziehen. Ebenso arbeiten NOTWIST mit den dynamischen Extremen. Unkonventionell schwanken sie zwischen pianissimo und fortissimo, geben auf diese Weise dem Stück den Schuß Zweifel in die schon schmerzhafte Stimmung. Abschied trägt immer Schmerzen aus. Der Sud selbstmitleidiger Introvertiertheit ergießt sich über dem Geflecht der gegensätzlichen Kompositionen einer NOTWIST-Platte. Die Musik ist traurig.   

So gelingt ein Bogenschlag von Markus Acher zu Lou Barlow. "Ich als 'sensitive charakter'", scherzt der Sänger und Songwriter von NOTWIST, "mache mir zu allen Dingen, die in Zusammenhang mit der Musik stehen, meinen eigenen Kopf. Dabei kommt es sicher vor, daß ich etwas penibel in meinen Ansprüchen bin." Der Hang zur Perfektion und ein ausgeprägtes Maß an Hypersensibilität läßt sich auch beim SEBADOH-Frontmann beobachten, wenn er bei kleinen Unstimmigkeiten mit Equipment um sich wirft.   

Achers Lyrics kreisen - eine weitere Parallele zu Barlow - nicht selten um die Emotion "Trennungsschmerz". Depression wäre ein zu negativ besetztes Wort, um es als Fixpunkt der Acher-Thematik zu benennen. Optimismus im Verhältnis jedoch schlicht eine Fehleinschätzung. Hat da jemand "Losercore" gesagt? "Sollte unserem musikalischen Ansatz ein Konzept innewohnen, so ist es der Versuch der grundlegenden Loslösung von jeglicher Kategorie. Keine Einstufungen mehr. Egal ob Crossover, Punk oder Alternative." Hochtrabende Ansprüche. NOTWIST können sie erfüllen. Wichtigste Voraussetzung: Die musikalischen Köpfe der Band sind Geschwister, die Brüder Micha und Markus Acher. Genetische Einheit garantiert für intensive Expression in der Musik. Ihr gemeinsames Zuhause: eine Weilheimer Wohngemeinschaft. Dieselben Eltern, dieselben Interessen, "dieselben Frauen", juxt Micha. Die Gespräche am Küchentisch kreisen zumeist um Musik. "Wie klingen, um anders zu sein?", so die am häufigsten diskutierte Frage. NOTWIST sind auf der Suche nach klanglichem Fortschritt. Hier eine Baß-Klarinette in den Song einarbeiten? Wie wär's dort mit einem Banjo-Sample? Kontrabaß-Trompete-Didjeridoo?! Alles, was nach verstaubtem Rock klingt, ein Menetekel für Schubladendenken der Journaille. Ein Anachronismus der Rockhistorie. Also, weg damit! Den Hörer mit Ungewohntem konfrontieren. Überraschungsmomente provozieren. Kontraste erschaffen. Schöne Melodien mit Noise zerhacken. Häßliche, düstere Stücke wie Phoenix aus der Asche mit Hitparadenrefrain versetzen. Niemals "avarage" sein. Andererseits nicht zu dick auftragen, denn weniger ist noch immer mehr. Aber die erfahrenen Musiker wissen, was der Komposition guttut und welche Elemente das Stück überfrachten.   

Historie   

Die NOTWIST-Geschichte beginnt 1990 in einer oberbayrischen Dorfclique zwischen Weilheim und Landsberg. Die Kleinstlabels in der Umgebung, "Hausmusik" und "Raffmond", schüren so etwas wie Szenebewußtsein in der ländlichen Atmosphäre nahe München. Im Umfeld dieser Leute - bestehend aus politisch Ambitionierten und Musikern - lernen Acher&Acher Messerschmidt kennen. Ein Jahr später hat sich das Bandgefüge bereits für ein reifes Debüt-Album ("The Notwist") gefestigt. "Is It Fear?" fragt Markus Acher mit dem ersten Song, den NOTWIST auf Tonträger pressen. Es liegt von Anfang an ein Windstoß Melancholie über den klangmalerischen Produkten der Band. Mit "Nook" (Big Store), dem zweiten Album, schließt sich ein großer Kreis von Hörern zusammen. Es kumulieren Vorlieben für SLAYER und METALLICA mit Gegensätzen wie NEIL YOUNG, JOHN CALE oder dem trüben Narzißmus eines J. Mascis'.

Letztlich leidet aber jeder für sich selbst. Schmerz drückt sich immer anders aus, und so erhält der NOTWIST-Sound durch die Achersche Schwermut ihren entscheidenden Schliff zur Unverwechselbarkeit. Die Folge: fünfstellige Verkaufszahlen einer deutschen Combo im radikal-eigenständigen Alternativbereich. Die Oberbayern werden zu einem Phänomen.   

Kollaboration   

Aus der Weilheimer Dorfidylle beginnen die Brüder, Kontakte zu anderen nationalen Musikern zu knüpfen. Über die gemeinsame Bookingagentur kommt man mit dem Duo LOCUST FUDGE zusammen. Schneider (HIP YOUNG THINGS) und Krite (Ex-SPEEDNIGGS, GREAT TUNA, SHARON STONED), innovative Köpfe im Ostwestfälischen, schließen Freundschaft mit der Oberbayern-Posse. Es kommt zur gemeinsamen Tournee, die für alle Beteiligten in einem kreativen Happening endet. Anschließend treten die Achers als Gastmusiker auf den Veröffentlichungen der Bielefelder/Detmolder Bands in Erscheinung. NOTWIST kollaboriert außerdem mit heimischen Musikern in dem Industrial-Noise-Projekt VILLAGE OF SAVOONGA. POTAWATOMI lautet das Pseudonym für die Zusammenarbeit der Band mit dem Free-Jazz-Klarinettisten Rudi Mahall. Markus Acher gründet RAYON. Micha Acher bekommt über sein Studium am Münchner Musikkonservatorium ein Engagement als Trompeter beim Bundes-Jazz-Orchester.   

An einem kleinen Münchner Theater vertonen NOTWIST das Drama "Vater, Sohn, Geist" des befreundeten Autors Markus Braun. Und im Comicartwork von Thomas Ott findet das Trio den geeigneten Künstler zur Verbildlichung des NOTWIST-Sounds. Dessen Zeichentrick-Clip zu "Incredible Change Of Our Alien" befördert die Weilheimer in die Genre-Magazine des Musik-TV.   

12 (Zwölf, nicht twelve)   

Der numerische Titel der neuen NOTWIST-Produktion suggeriert dem rustikalen Norddeutschen zunächst nur: "Voll auf die Zwölf!" Bezug nehmend auf die Intensität des dritten Albums ist die plumpe Deutung allerdings gar nicht so abwegig. Da ist beispielsweise die aktuelle Single, der Opener "Torture Day". Ein Song, dessen ungeheure melodische Wucht auf der bereits erwähnten brillanten Umgangsweise mit dynamischen Kontrasten basiert. Dem folgt "My Phrasebook". Man hört Bomben explodieren, während das Schlagzeug kontrapunktiv gegen den piepsigen Sprechgesang anschlägt. Im Refrain mimen die Instrumente Harmonie, ehe sie sich - zurück in der Strophe - wieder ins Chaos katapultieren. "Puzzle" beginnt mit einem optimistischen Mainstreamriff, welches im Gegensatz zum vorhergehenden Stück in eine depressive Moll-Klimax mündet. Der avisierte Song zum aktuellen Comic-Clip, "M", schließt nach brachialem Gitarrentornado mit dem übersteuerten Grundbeat einer Dancenummer ab. Die Liste der gegensätzlichen Stilmittel auf "12", gerade innerhalb der Songs, ließe sich endlos fortsetzen. Intensität ist Standard. Dem emotionalen Anteil kann man sich nur schwer entziehen. NOTWISTs Harmonien besitzen poetische Kraft. Wieso bloß "12" als Titel? "Ein klangvolle Zahl kann viele Erklärungen haben. '12' ist ein Titel, der Raum für Assoziationen läßt", klärt Markus Acher auf.   

Nach den Diskurs-Ansätzen auf dem Sprachterrain durch BLUMFELD, GOLDENE ZITRONEN oder die FLOWERPORNOES schlingert mit NOTWIST eine deutsche Band nun auch durch klangliches Neuland. Wohin der Weg führt, wird sich zeigen. Zugfahren bei Nacht ist ein bißchen so, als würde man niemals ankommen. Nur die Lichter der vorbeihuschenden Städte sind Indiz dafür, daß man sich in der Vorwärtsbewegung befindet. Auch NOTWIST bewegen sich stetig nach vorn. Mit dem Gefühl sehnsüchtiger Endlosigkeit in ihrer Musik.   

Discographie   
"The Notwist" (Subway rec.) 1991   
"Nook" (Big Store) 1992   
"Johnny & Mary"-EP (Raffmond) 1993   
"12" (Big Store) 1995   

Darüber hinaus liegen von allen Projekten der NOTWIST-Musiker (VILLAGE OF SAVOONGA, POTAWATOMI, RAYON) bereits Tonträger vor.   
MAILORDER: Tobi Hach, Franziskusweg 74, 82362 Weilheim, Tel./Fax.: 0881/69207.   


Tim Jürgens