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THE NOTWIST:
The Daily Planet
aus INTRO #54 - Mai 1998
Plattenläden und Konzertbesuche;
Proberäume und Fanzinediskussionen. Unmerklich spannt sich ein Netz
von musikkulturellen Institutionen über das eigene Leben und
beansprucht vehement seine Präsenz. Mannigfaltige Verflechtungen ziehen
sich durch unterschiedlichste Bereiche, der eigene Entdeckungsdrang führt
zu weiteren akustischen Subsystemen. Die Freude über das neue, interessante
Label bildet immer einen aktuellen Knotenpunkt, von dem aus die nächste
Exkursion die Richtung bestimmt.
Und dann begegnet man NOTWIST.
Nicht sehr oft, eher in unregelmäßigen Abständen, dennoch
konstant seit einigen Jahren. Anlässe finden sich jedenfalls. Und
man erzählt: über Tonträger und neue Ideen. Über neue
Ansatzpunkte und Orte, an denen man sich in letzter Zeit mit gesteigerter
Aufmerksamkeit aufgehalten hat. Begeisterung und Interesse fließen
bei derartigen Gesprächen durcheinander. Es geht nicht um Selbstzweck,
nicht um die Rarität im eigenen Plattenregal, sondern um das Material
selbst sowie die Arbeit daran. In bezug auf NOTWIST markieren solche Begegnungen
gleichzeitig immer auch Standortbestimmungen. Diese sind zumeist alles
andere als bloß graduelle Verschiebungen von Akzenten. Schließlich
hat bisher jede ihrer Veröffentlichungen den Schritt über unterschiedlichste
Grenzen vollzogen. Dabei beschreiben NOTWIST einen Ansatz, dessen Anwendungsgebiet
von Zeit zu Zeit einer Reaktualisierung unterzogen wird. Man holt die alten
Baupläne aus dem Schrank, merkt, daß sich um einen herum alles
verändert hat, und beginnt, die Veränderung produktiv für
die eigenen Zwecke handhabbar zu machen. So verkörpern Tonträger
permanente Projektionen der jeweils aktuellen Einflüsse auf den Bandansatz.
NOTWIST sind Musikhörer.
Etwas benutzen
Nun sind erneut drei Jahre
seit der letzten Veröffentlichung vergangen, und wieder geht man bei
der Wahl der Mittel neue Wege, ohne sich zu verlaufen. Den aktuellen Stand
der sukzessiven Umbruchsituation, die NOTWIST seit einem knappen Jahrzehnt
bestreiten, kennzeichnet auf "Shrink" der verstärkte Umgang mit Elementen
des Jazz und der Elektronik. Entscheidend für die Umsetzung der letzten
Komponente war die personelle Erweiterung um Martin Gretschmann. Auf sich
allein gestellt, definiert dieser unter dem Namen CONSOLE zwischen Club-
und Zuhörmusikuniversen sein eigenes elektronisches Terrain. Als ideale
Platform dient ihm dafür das exquisite "Payola"-Label.
Zu viert haben NOTWIST eine
Perspektive erarbeitet, aus der man auf gegenwärtige musikalische
Herausforderungen nicht nur defensiv mit der unendlichen Verfeinerung eigener
Spielarten reagieren kann. Statt dessen bertreiben NOTWIST Klangforschung
abseits der gerngesehenen
Kategorisierungsmuster.
Der Sound präsentiert sich als Einheit. In gewisser Weise organisch
zwar, aber in keiner Verbindung zu dem analogen Geblubber, welches so oft
in Funktion einer übercodierten Garnierung einen konventionellen Rest
hinterlegt. Natürlich finden Gitarre, Schlagzeug und Baß weiterhin
ihren Anteil am neuen Gesamtvolumen. Allerdings sind sie längst nicht
mehr die bestimmenden Komponenten. Im Mittelpunkt steht vielmehr das komplexe
Arrangement an sich, keine beliebig ausufernde Geräuschesammlung eines
elektronisch reformierten Auslaufmodells.
Dabei betont Markus Acher
(Sänger und Gitarrist) die Nicht-Zwangsläufigkeit einer solchen
Vorgehensweise: "Eine klassische Dreierbesetzung ist für mich momentan
immer noch so vielfältig dehnbar wie eine klassische Jazz-Besetzung.
Man kann damit unendlich viel machen. In gewisser Weise ist das wie ein
weißes Blatt Papier: Es zieht in keine bestimmte Richtung und hat
deswegen kein Ende. Bei NOTWIST geht es dagegen um die Lust am vielfältigen
Klangbild, welches in alle Richtungen zieht und verschiedene Historien
aufgreift."
Gleichzeitig hat die Änderung
der Mittel eine methodische Erweiterung nach sich gezogen. So wurden unterschiedlichste
Gastmusiker gebeten, ihre ergänzenden Entwürfe zu den einzelnen
Stücken einzuspielen, die in einem zweiten Schritt, mitunter bis zur
Unkenntlichkeit bearbeitet, eine Integration erfuhren. Am Ende stand das
Spielen mit dem Song selbst. Dazu Markus: "Wir haben angefangen, bestimmte
Partikel herauszugreifen und wichtiger zu machen, als sie eigentlich gedacht
waren. Oder man nimmt einzelne Sachen ganz heraus, verfremdet sie und setzt
sie geloopt als elektronisches Fragment wieder ein."
Something sweet, something
tender
Seit einiger Zeit schon vergeht
kein Gespräch mit NOTWIST über Musik, ohne den Themenkomplex
um TALK TALK zu streifen. Und tatsächlich lassen sich einige Parallelen
rekonstruieren, die man zu Recht als Einfluß auffassen könnte.
So ist beiden eine spezifische Sensibilität gemein: für Harmonien,
für Klänge und für die Inszenierung von Ruhe. Kein überstürztes
Zustellen versperrt die Räume, trotzdem umhüllt den Hörer
eine ungemein hohe akustische Dichte. Direkt auf den Vergleich angesprochen,
fügt Markus noch einen weiteren Aspekt hinzu: "Ähnlich wie TALK
TALK oder MARK HOLLIS bedienen wir uns von Musik, die ein extremes Eigenleben
hat. Wichtig ist deshalb ein respektvoller Umgang mit dieser Musik. Das
beinhaltet auch, daß man die Referenzen für sich stehen läßt
und sie nicht als dekorative Schicht mißbraucht."
Obwohl NOTWIST - auch durch
das Einbeziehen von Jazz-Spielarten, wie sie auf "Blue Note"-Platten der
späten '60er und frühen '70er zu finden sind - damit ein außerordentlich
anspruchsvolles, um nicht zu sagen intellektuelles Koordinatensystem pflegen,
ist es letztlich das Format des Popsongs, in dem sich die Materialfülle
komprimiert wiederfindet. Dabei meint Pop alles andere als Glamourösität.
NOTWIST sind immer noch Anti-Style in ihrem Auftreten; wahrlich ein sympathisches
Überbleibsel des Indie-Rock. Und sie kennen diese Momente des Zusammenzuckens
und der kurz vor dem Zerbrechen stehenden Emotionalität. Alleine über
Kopfarbeit funktioniert das nicht.
Carsten Sandkämper |