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november, 26th
 
 
THE NOTWIST: The Daily Planet   
aus INTRO #54 - Mai 1998   

Plattenläden und Konzertbesuche; Proberäume und Fanzinediskussionen. Unmerklich spannt sich ein Netz von musikkulturellen Institutionen über das eigene Leben und  beansprucht vehement seine Präsenz. Mannigfaltige Verflechtungen ziehen sich durch unterschiedlichste Bereiche, der eigene Entdeckungsdrang führt zu weiteren akustischen Subsystemen. Die Freude über das neue, interessante Label bildet immer einen aktuellen Knotenpunkt, von dem aus die nächste Exkursion die Richtung bestimmt.

Und dann begegnet man NOTWIST. Nicht sehr oft, eher in unregelmäßigen Abständen, dennoch konstant seit einigen Jahren. Anlässe finden sich jedenfalls. Und man erzählt: über Tonträger und neue Ideen. Über neue Ansatzpunkte und Orte, an denen man sich in letzter Zeit mit gesteigerter Aufmerksamkeit aufgehalten hat. Begeisterung und Interesse fließen bei derartigen Gesprächen durcheinander. Es geht nicht um Selbstzweck, nicht um die Rarität im eigenen Plattenregal, sondern um das Material selbst sowie die Arbeit daran. In bezug auf NOTWIST markieren solche Begegnungen gleichzeitig immer auch Standortbestimmungen. Diese sind zumeist alles andere als bloß graduelle Verschiebungen von Akzenten. Schließlich hat bisher jede ihrer Veröffentlichungen den Schritt über unterschiedlichste Grenzen vollzogen. Dabei beschreiben NOTWIST einen Ansatz, dessen Anwendungsgebiet von Zeit zu Zeit einer Reaktualisierung unterzogen wird. Man holt die alten Baupläne aus dem Schrank, merkt, daß sich um einen herum alles verändert hat, und beginnt, die Veränderung produktiv für die eigenen Zwecke handhabbar zu machen. So verkörpern Tonträger permanente Projektionen der jeweils aktuellen Einflüsse auf den Bandansatz. NOTWIST sind Musikhörer.   

Etwas benutzen   

Nun sind erneut drei Jahre seit der letzten Veröffentlichung vergangen, und wieder geht man bei der Wahl der Mittel neue Wege, ohne sich zu verlaufen. Den aktuellen Stand der sukzessiven Umbruchsituation, die NOTWIST seit einem knappen Jahrzehnt bestreiten, kennzeichnet auf "Shrink" der verstärkte Umgang mit Elementen des Jazz und der Elektronik. Entscheidend für die Umsetzung der letzten Komponente war die personelle Erweiterung um Martin Gretschmann. Auf sich allein gestellt, definiert dieser unter dem Namen CONSOLE zwischen Club- und Zuhörmusikuniversen sein eigenes elektronisches Terrain. Als ideale Platform dient ihm dafür das exquisite "Payola"-Label.   
Zu viert haben NOTWIST eine Perspektive erarbeitet, aus der man auf gegenwärtige musikalische Herausforderungen nicht nur defensiv mit der unendlichen Verfeinerung eigener Spielarten reagieren kann. Statt dessen bertreiben NOTWIST Klangforschung abseits der gerngesehenen   
Kategorisierungsmuster. Der Sound präsentiert sich als Einheit. In gewisser Weise organisch zwar, aber in keiner Verbindung zu dem analogen Geblubber, welches so oft in Funktion einer übercodierten Garnierung einen konventionellen Rest hinterlegt. Natürlich finden Gitarre, Schlagzeug und Baß weiterhin ihren Anteil am neuen Gesamtvolumen. Allerdings sind sie längst nicht mehr die bestimmenden Komponenten. Im Mittelpunkt steht vielmehr das komplexe Arrangement an sich, keine beliebig ausufernde Geräuschesammlung eines elektronisch reformierten Auslaufmodells.

Dabei betont Markus Acher (Sänger und Gitarrist) die Nicht-Zwangsläufigkeit einer solchen Vorgehensweise: "Eine klassische Dreierbesetzung ist für mich momentan immer noch so vielfältig dehnbar wie eine klassische Jazz-Besetzung. Man kann damit unendlich viel machen. In gewisser Weise ist das wie ein weißes Blatt Papier: Es zieht in keine bestimmte Richtung und hat deswegen kein Ende. Bei NOTWIST geht es dagegen um die Lust am vielfältigen Klangbild, welches in alle Richtungen zieht und verschiedene Historien aufgreift."   
Gleichzeitig hat die Änderung der Mittel eine methodische Erweiterung nach sich gezogen. So wurden unterschiedlichste Gastmusiker gebeten, ihre ergänzenden Entwürfe zu den einzelnen Stücken einzuspielen, die in einem zweiten Schritt, mitunter bis zur Unkenntlichkeit bearbeitet, eine Integration erfuhren. Am Ende stand das Spielen mit dem Song selbst. Dazu Markus: "Wir haben angefangen, bestimmte Partikel herauszugreifen und wichtiger zu machen, als sie eigentlich gedacht waren. Oder man nimmt einzelne Sachen ganz heraus, verfremdet sie und setzt sie geloopt als elektronisches Fragment wieder ein."   

Something sweet, something tender   

Seit einiger Zeit schon vergeht kein Gespräch mit NOTWIST über Musik, ohne den Themenkomplex um TALK TALK zu streifen. Und tatsächlich lassen sich einige Parallelen rekonstruieren, die man zu Recht als Einfluß auffassen könnte. So ist beiden eine spezifische Sensibilität gemein: für Harmonien, für Klänge und für die Inszenierung von Ruhe. Kein überstürztes Zustellen versperrt die Räume, trotzdem umhüllt den Hörer eine ungemein hohe akustische Dichte. Direkt auf den Vergleich angesprochen, fügt Markus noch einen weiteren Aspekt hinzu: "Ähnlich wie TALK TALK oder MARK HOLLIS bedienen wir uns von Musik, die ein extremes Eigenleben hat. Wichtig ist deshalb ein respektvoller Umgang mit dieser Musik. Das beinhaltet auch, daß man die Referenzen für sich stehen läßt und sie nicht als dekorative Schicht mißbraucht."   
Obwohl NOTWIST - auch durch das Einbeziehen von Jazz-Spielarten, wie sie auf "Blue Note"-Platten der späten '60er und frühen '70er zu finden sind - damit ein außerordentlich anspruchsvolles, um nicht zu sagen intellektuelles Koordinatensystem pflegen, ist es letztlich das Format des Popsongs, in dem sich die Materialfülle komprimiert wiederfindet. Dabei meint Pop alles andere als Glamourösität. NOTWIST sind immer noch Anti-Style in ihrem Auftreten; wahrlich ein sympathisches Überbleibsel des Indie-Rock. Und sie kennen diese Momente des Zusammenzuckens und der kurz vor dem Zerbrechen stehenden Emotionalität. Alleine über Kopfarbeit funktioniert das nicht. 


Carsten Sandkämper