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november, 26th
 
 
the NOTWIST:

Die drei nach zwölf 

Das Jahr hat zwölf Tage. Machmal mehr, aber meistens weniger. Deswegen und auch aus anderen Gründen hier also so ziemlich alles Berichtenswerte über die Band, die sich offenbar erst totspielen mußte, um sich jetzt in einem Kraftakt zwischen bewußter Rootsvernachlässigung und dickem Sturm und Drang einfach mal neu zu erfinden. Gut Ding will Weile haben und Ende gut, alles gut. Erstmal, zumindest. 

Durch und durch zufriedene Ausgelaugtheit verbreitet sich in den Räumen eines kleinen aber feinen Tonstudios in Witten. Einige müde und zerzauste Menschen hängen in Halbmastposition auf Sofas, räkeln sich und verbreiten ehrlichen, unanmaßenden und durchaus gerechtfertigten Stolz. Vor wenigen Minuten ist nämlich der letzte Schliff an der Platte vollbracht worden, an der Notwist jetzt schon seit mehreren Monaten gearbeitet haben. Schlicht "12" wird sie heißen, und sie ist verdammt erstaunlich gut geworden. Wirklich. 
Es hat ja auch wahrlich lange gedauert. Drei Jahre ist es nun schon her, seit "Nook" und ihr Durchbruch im Kleinen kamen. Seitdem reihte sich eine Tour an die andere, und/oder diversen Nebenprojekten verlangten ausgiebig nach ihnen (zu denen später mehr), so daß man ihnen auf keinem Fall mangeldes Engagement oder gar Schluffitum vorhalten könnte. Vielmehr eher Opfer der Umstände, auch wenn Merkus Acher zugeben muß, daß sich das Projekt "12" teilweise auf mehr oder weniger unangebrachte Art und Weise ewig hingezogen hat. Selbst die Arbeit im Studio haben sie sich nicht ganz einfach gemacht: Mitten im High-Noon der Arbeitsphase nahmen Teile der Band den Zug nach München, um dort in einem extra dafür angemieteten Studio dabeizusein, wie ein Kontrabassist einige Töne über zwei sonst bereits fertiggestellte Songs spielt, um dann am Folgetag mit den Tonbändern wieder zurück nach Witten zu fahren, wo die anderen natürlich in der Zwischenzeit schon weitergearbeitet hatten. Ein paar Tage vorher waren Krite und Schneider (zu den beiden weiter unten mehr) extra aus Ostwestfalen-Lippe angereist, um ihren Part zum Gelingen in Form von Drums (Schneider) sowie Orgel und Hintergrund-Gesang (Krite) zu "The String" beizusteuern. Aufwand galore also und eine an Perfektionismus grenzende Akribie bei den ständig bei der Studioarbeit anstehenden Entscheidungsfindungen. Das Resultat, das jetzt schon seit Tagen meinen CD-Player besetzt hält, ist möglicherweise nicht gerade das, was der geneigte Notwist-Fan erwartet bzw. erhofft hat. Dafür hält "12" wahrscheinlich zu wenig kraftstrotzende Riff-Bretterei bereit. Denn diese sonst so typischen Notwist-Komponente taucht nur noch sporadisch und oftmals völlig unvermittelt auf. Stattdessen wird jetzt verstärkt in Pop gemacht, ohne dabei irgendwelche Angriffspunkte für Glitsch-Vorwürfe zu bieten, denn dafür sind in dieser Platte zu viele kantige Gimmicks versteckt, die wohl als Dokumente einer neugefundenen Freude am Experiment zu lesen sind. Wenn z.B. bei "M" der gesamte Song völlig unerwartet in sich zusammensackt und für ein paar Strophen nur noch ein scheppernd-groovy Drumcomputer und ein Gitarrenzisch die Leitung übernehmen, dann ist das zwar ungewohnt, aber unheimlich erfrischend. Das gleiche gilt auch für die ständigen Tapeloops und Samples, die die olle Sprödigkeit konventioneller Rockplatten vermeiden helfen und wunderbar als Bindeglieder die Songs zusammenrücken. "12" funktioniert nicht zuletzt deshalb auch als Kiffer-Platte, allerdings fallen einen dann ab einer bestimmten Raumlautstärke die gut versteckten Noisebretter ganz schön fies von hinten an (als Beispiele seien hier nur "Puzzle" und "The String" genannt). Wobei Songs wie das Titelstück mit der gefühlvoll von Rudi Mahall getröteten Bassklarinette und dem Kontrabass schon für sich alleine eine dermaßen subtil-wuchtige Suggestionswirkung haben, daß man sie hier wider der elendigen Abgewetztheit solcher Begrifflichkeiten mindestens als 'magisch' bezeichnen sollte. Interessant allerdings die Frage, in wie weit der geneigte Notwist-Fan bereit ist, sich auf sowas einzulassen. Aber wen kümmert schon sowas wie Erwartungshaltungen von außen? Notwist selber etwa? Markus: "Doch, wir machen uns schon Gedanken darüber, wie sowas dann im Endeffekt nach draußen wirkt und dort aufgenommen wird. Das ist ja auch wirklich interessant. Aber es hat im Prinzip keine entscheindungsbeeinflussende Wirkung."  
Ein Video zur Single "Torture Day" ist in diesem Augenblick in Planung. Verhandlungen diesbezüglich mit Jörg "Nekromantik" Buttgereit sind an dessen Selbstverständnis als Dienstleistungsbetrieb in solchen Belangen gescheitert (was ich sehr schade finde), und Kontaktaufnahmen mit Wenzel "Sommer der Liebe" Storch und Christoph Schlingensief sind leider ebenfalls in die Hose gegangen. Weiteres ist noch nicht bekannt. Allerdings sind solche Sachen wie Videoproduktion bei Notwist auch ein recht heikeles Thema, da der eigene Anspruch an dieses Medium im Vergleich zur Standardkost nicht gerade trivial ist: Möglichst losgelöst von der Band und bestenfalls auch der Musik sollte es so eigenständig sein, daß es im Prinzip auch als Film funktionieren könnte. Eine Herangehensweise, die solche Ausnahmefälle wie das phantastische "Johnny And Mary"-Video möglicht macht, allerdings die verantwortliche Plattenfirma gelegentlich auch schon mal in den Wahnsinn treibt. Apropos: Auch die Veröffentlichungsstrategie zum neuen Album ist ein wenig komplizierter: Zuerst erscheint die limitierte, superaufwendig gestaltete "Torture Day"-Single, deren Cover akkordeonmäßig auseinanderziehbar ist und das auseinandergefaltet ein Comic von Thomas Ott zeigt. Das Album "12" ist ab dem 29.5.in den Läden, und zwar auf Vinyl als schicke Doppel-12" und auf CD in 5000er Auflage mit Bonus-CD, auf der sich eine komplett umarrangierte und dadurch eher Portishead-mäßige Version von "Torture Day" befindet, bei der unter anderem Cindy Dall von Smog (!) mitmacht. Die haben nämlich auf ihrer letzten Tour in Weilheim Station gemacht, um dort im hiesigen Studio ein paar Stücke aufzunehmen. Wobei jetzt mit 'Weilheim' ein zentrales Schlüssewort gefallen ist: Das kleine Kaff irgendwo in der Provinz um München genießt ja seit einiger Zeit sowas wie einen Ausnahme-Status in diesem Land. Denn wenn man das dortige Musiktreiben mit den meist erbärmlichen lokalen Szenen anderer Kleinstädte (und auch Metropolen) vergleicht, so bekommt man doch den Eindruck, daß es sich hier um eine ganz besondere Konstellation von glücklichen Umständen handeln muß, aus der ein treffsicheres Gefühl für musikalische Unpeinlichkeiten jenseits von Blues- und Funkstandards und platter Epigonie resultiert. Warum ist dem so? Markus, der kürzlich mit seinem Bruder Micha ins benachbarte und um 4000 Einwohner größere Landsberg  gezogen ist ("in die Großstadt"), hat da eine Hypothese: "Es gibt in Weilheim und Umgebung offenbar eine äußerst glückliche Ballung von Leuten mit Initiative und Kreativität. Im Prinzip war es hier bis vor einiger Zeit nicht anders als in andern Kleinstädten. Es hat alles einfach still vor sich hingedümpelt. Es gab bei uns allerdings sowas wie einen auslösendes Moment, als solche Bands wie Notwist, die Schweißer und auch noch ein paar andere, die sowas wie die erste Generation der Weilheim-Bands bilden, auch überregional Anerkennung fanden.

Es gab also plötzlich sowas wie eine kleine, interessierte Öffentlichkeit. Darüber hinaus haben sich noch alle irgendwie gegenseitig beeinflußt und befruchtet: Die einen sehen, wie es bei den andern funktioniert, und so weiter. Dazu kam, daß wir und die Schweißer schon Platte raus hatten, und sich dadurch der Bezug zum Veröffentlichen an und für sich verändert hat. Es war nicht mehr etwas besonderes oder exotisches. Außerdem haben wieder andere Leute angefangen, selber Konzerte zu organisieren, so daß auch endlich mal internationale Bands in unsere Gegend kamen. Und dann waren da noch die Slumlords, die hier erstmals seltsam-komplizierte Musik spielten, und dadurch wiederum die Initialzündung für Potawatomi gaben, weil wir uns dachten, daß es bestimmt interessant ist, mit diesen Leuten zusammenzuspielen."  Potawatomi sind - wie schon mal an andere Stelle in diesem Heft vorgestellt - die beiden Acher-Brüder von Notwist, Teile der Slumlords (von denen in Kürze endlich das Debüt-Album kommen wird) und der renommierte Jazz-Bassklarinetist Rudi Mahall, der auch auf "12" mitmacht, und zusammen spielen sie einen wüsten Free-Schlürf, der John Zorn garantiert gefallen würde. Am 20.5., also noch bevor "12" in den Läden steht, gehen Potawatomi wieder ins Studio, um dort den Nachfolger zum gigantischen "The Last Funeral" aufzunehmen. Und dann gibt es natürlich auch Village Of Savoonga noch, die hauptsächlich aus Markus Acher, Christoph Merk und Wolfgang Petters bestehen, deren Besetzung aber irgendwie nach oben offen ist. Auf deren Debüt befinden sich unter anderem zwei Songs, die später auch im Notwist-Kontext Verwendung fanden, allerdings in schwer modifizierten Versionen. Außerdem treten V.o.S. auch gelegentlich als mitunter zwölfköpfige Band auf, um während der Aufführung zu F.W. Murnaus Stummfilmklassiker Nosferatu einen Soundtrack zu improvisieren. Im Oktober gehen sie damit mal wieder auf Tour. Darüber hinaus hat der offensichtlich hyperaktive Markus Acher kürzlich auch noch eine Solo-Doppel-7" unter dem Namen Rayon (Name geklaut von Jules Vernes Un Rayon Verte, ein Buch, das ihn nach eigenen Aussagen verfolgt) rausgebracht, auf der wunderschöne Akustik-Lo-Fi-Dinger gleichberechtigt neben merkwürdigen Soundkollagen stehen. Ach ja, und natürlich spielt auch sein Bruder Micha noch in einem anderen Projekt mit, welches Ogonjok heißt, wobei ich nicht die geringste Ahnung habe, was für Musik die machen. Ich weiß nur, daß Micha dort Posaune (!) bläst. All diese Bands und noch viele andere mehr, die ich hiermit mal eben komplett schwer empfehlen möchte, veröffentlichen ihre Platten auf den drei Weilheimer Labels Hausmusik, Kollaps und ICL, die sich alle weitgehend der Dokumentation der lokalen Szene verschrieben haben (die Palace Brothers-Single auf Hausmusik bildet da eine kleine, erste Ausnahme) und ihre Produkte (alle Vinyl-only) unglaublich aufwendig und liebevoll gestalten. Wen das musikalische Treiben 'dort unten' interessiert, dem sei hier das große, zweitägige Weilheim-Festival am 23./24. Juni nawowohl ans Herz gelegt. Dort werden sich nämlich neben heimischen Größen wie Notwist, Fred Is Dead, den Slumlords, den Borrowed Tunes, Village Of Savoonga, Toxic und den live angeblich unglaublichen Trash Can Trasher (letztes Konzert ever) auch die genialen Münchener von Couch sowie Sharon Stoned (mit Schneider) die Ehre geben. Und wenn letztere schon mal da sind, wird es bestimmt auch wieder ein kleines Family Affair-Stelldichein geben.  
Womit wir bei noch einem Notwist-Nebenprojekt angekommen wären (das letzte für heute). Angefangen hat hier alles in einem Büro einer Konzert-Agentur, die für die Touren von Notwist, Hip Young Things, Locust Fudge etc. verantwortlich ist. Hier kam ein junger Mann auf die Idee, die Acher-Brüder, Krite (Speedniggs, Sharon Stoned, Lucust Fudge), Schneider (Hip Young Things und auch Locust Fudge) und die beiden Briten von Big Ray, die sich alle gegenseitig vorher nicht persönlich kannten (ja, bis auf die Achers), doch mal aufeinander loszulassen und danach zusammen auf Tour zu schicken. Was anfangs bei den Beteiligten eher mit mäßiger Begeisterung aufgenommen wurde, erwies sich dann doch als sehr gute Idee, denn da kamen Töpfe und Deckel zusammen, die perfekt aufeinander paßten. Na ja, mit einer kleinen Ausnahme. Markus: "Das Zusammenarbeiten hat mit Krite und Schneider phantastisch funktioniert, wobei es mit den beiden Big Rays lediglich O.K. war. Für mehr waren die musikalischen Vorstellungen einfach viel zu konträr. Die wollten eher konventionellen Rock mit ganz langen Gitarrensoli, also im Prinzip all die Sachen, die wir immer vermeiden wollten. Auf der Tour war das in Ordnung, aber darüber hinaus hat es mit Krite und Schneider doch mehr Sinn und Spaß gemacht, auch was gegenseitige Beeinflussung angeht." Genau letzteres wird auch ganz deutlich, wenn man die klaren Parallelen in den neueren Entwicklungen von Locust Fudge und Notwist betrachtet. Denn bei beiden ist eine wie auch immer geartete Abkehr von anfänglicher Konvention hin zum freien Experiment innerhalb gegebener Songstrukturen offensichtlich. Obwohl über einen Family Affair-Tonträger seit längerem laut nachgedacht wird, ist da noch nichts richtig amtlich. Wahrscheilich wird man sich nach dem Weilheim-Festival für einige Tage ins Tonstudio vor Ort begeben, "um mal ein bißchen was aufzunehmen". Es existiert auch noch eine Liveaufnahme von der Tour letzten Jahres, aber mit der ist keiner so richtig glücklich, so daß sie bestenfalls mal als Cassette in kleiner Stückzahl veröffentlicht werden wird. Außerdem müssen erstmal neue Songs her, denn das F.A.-Tourrepertoir bestand ja doch größtenteils aus Stücken, die die Beteiligten aus ihren anderen Bands mitgebracht hatten.  
Ach ja, hätte ich fast vergessen: Neben all diesen Projekten haben Markus und Micha jetzt auch noch angefangen, Musik für Theateraufführungen zu komponieren. Erstmals geschah dies bei einer Inzenierung eines Stückes des Belgischen enfant terrible Jan Fabre, für welche sie Tapes mit Soundcollagen angefertig haben, und demnächst werden sie wohl für eine andere Aufführung die Theatermusik für ein Strechquartett (!) schreiben. Und zu der Zeit werden auch erstmals Kopien von "12" in japanischen, englischen und evtl. auch amerikanischen Plattenläden stehen. Markus: "Die Idee, Platten im Ausland zu veröffentlichen, ist mir igendwie ein wenig zu abstrakt, als daß es mir richtig was bedeuten könnte. Es sei denn, es geschieht auf einem Label, das ich schon kenne und das ich mag. Aber ich fand es schon aufregend, in England aufzutreten. Wir sind da vorher nämlich noch nie gewesen. Und es war wirklich komisch, vor lauter Leuten, die Englisch sprechen, auf Englisch zu singen, obwohl man die Sprache eigentlich gar nicht so richtig beherrscht bzw. sich nicht richtig verständigen kann. Aber auf Deutsch singen ist für mich irgendwie außer Reichweite."  

Infos über das Weilheim-Festival und über die oben besprochenen Bands sowie ihre Platten gibt es bei einer dieser Adressen. Da es in Weilheim offensichtlich kein Konkurrenzdenken gibt, reicht es, an eine davon zu schreiben: 
Hausmusik c/o Wolfgang Petters / Salzgasse 144 / 86899 Landsberg / Tel. 08191/33729 
Kollaps c/o Christoph Merk / Zotzenmühlenweg 1 / 82362 Weilheim / Tel. 0881/63524 


Vielen Dank an: 


Carsten la Tendresse