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the NOTWIST:
Die drei nach zwölf
Das Jahr hat zwölf Tage.
Machmal mehr, aber meistens weniger. Deswegen und auch aus anderen Gründen
hier also so ziemlich alles Berichtenswerte über die Band, die sich
offenbar erst totspielen mußte, um sich jetzt in einem Kraftakt zwischen
bewußter Rootsvernachlässigung und dickem Sturm und Drang einfach
mal neu zu erfinden. Gut Ding will Weile haben und Ende gut, alles gut.
Erstmal, zumindest.
Durch und durch zufriedene
Ausgelaugtheit verbreitet sich in den Räumen eines kleinen aber feinen
Tonstudios in Witten. Einige müde und zerzauste Menschen hängen
in Halbmastposition auf Sofas, räkeln sich und verbreiten ehrlichen,
unanmaßenden und durchaus gerechtfertigten Stolz. Vor wenigen Minuten
ist nämlich der letzte Schliff an der Platte vollbracht worden, an
der Notwist jetzt schon seit mehreren Monaten gearbeitet haben. Schlicht
"12" wird sie heißen, und sie ist verdammt erstaunlich gut geworden.
Wirklich.
Es hat ja auch wahrlich
lange gedauert. Drei Jahre ist es nun schon her, seit "Nook" und ihr Durchbruch
im Kleinen kamen. Seitdem reihte sich eine Tour an die andere, und/oder
diversen Nebenprojekten verlangten ausgiebig nach ihnen (zu denen später
mehr), so daß man ihnen auf keinem Fall mangeldes Engagement oder
gar Schluffitum vorhalten könnte. Vielmehr eher Opfer der Umstände,
auch wenn Merkus Acher zugeben muß, daß sich das Projekt "12"
teilweise auf mehr oder weniger unangebrachte Art und Weise ewig hingezogen
hat. Selbst die Arbeit im Studio haben sie sich nicht ganz einfach gemacht:
Mitten im High-Noon der Arbeitsphase nahmen Teile der Band den Zug nach
München, um dort in einem extra dafür angemieteten Studio dabeizusein,
wie ein Kontrabassist einige Töne über zwei sonst bereits fertiggestellte
Songs spielt, um dann am Folgetag mit den Tonbändern wieder zurück
nach Witten zu fahren, wo die anderen natürlich in der Zwischenzeit
schon weitergearbeitet hatten. Ein paar Tage vorher waren Krite und Schneider
(zu den beiden weiter unten mehr) extra aus Ostwestfalen-Lippe angereist,
um ihren Part zum Gelingen in Form von Drums (Schneider) sowie Orgel und
Hintergrund-Gesang (Krite) zu "The String" beizusteuern. Aufwand galore
also und eine an Perfektionismus grenzende Akribie bei den ständig
bei der Studioarbeit anstehenden Entscheidungsfindungen. Das Resultat,
das jetzt schon seit Tagen meinen CD-Player besetzt hält, ist möglicherweise
nicht gerade das, was der geneigte Notwist-Fan erwartet bzw. erhofft hat.
Dafür hält "12" wahrscheinlich zu wenig kraftstrotzende Riff-Bretterei
bereit. Denn diese sonst so typischen Notwist-Komponente taucht nur noch
sporadisch und oftmals völlig unvermittelt auf. Stattdessen wird jetzt
verstärkt in Pop gemacht, ohne dabei irgendwelche Angriffspunkte für
Glitsch-Vorwürfe zu bieten, denn dafür sind in dieser Platte
zu viele kantige Gimmicks versteckt, die wohl als Dokumente einer neugefundenen
Freude am Experiment zu lesen sind. Wenn z.B. bei "M" der gesamte Song
völlig unerwartet in sich zusammensackt und für ein paar Strophen
nur noch ein scheppernd-groovy Drumcomputer und ein Gitarrenzisch die Leitung
übernehmen, dann ist das zwar ungewohnt, aber unheimlich erfrischend.
Das gleiche gilt auch für die ständigen Tapeloops und Samples,
die die olle Sprödigkeit konventioneller Rockplatten vermeiden helfen
und wunderbar als Bindeglieder die Songs zusammenrücken. "12" funktioniert
nicht zuletzt deshalb auch als Kiffer-Platte, allerdings fallen einen dann
ab einer bestimmten Raumlautstärke die gut versteckten Noisebretter
ganz schön fies von hinten an (als Beispiele seien hier nur "Puzzle"
und "The String" genannt). Wobei Songs wie das Titelstück mit der
gefühlvoll von Rudi Mahall getröteten Bassklarinette und dem
Kontrabass schon für sich alleine eine dermaßen subtil-wuchtige
Suggestionswirkung haben, daß man sie hier wider der elendigen Abgewetztheit
solcher Begrifflichkeiten mindestens als 'magisch' bezeichnen sollte. Interessant
allerdings die Frage, in wie weit der geneigte Notwist-Fan bereit ist,
sich auf sowas einzulassen. Aber wen kümmert schon sowas wie Erwartungshaltungen
von außen? Notwist selber etwa? Markus: "Doch, wir machen uns schon
Gedanken darüber, wie sowas dann im Endeffekt nach draußen wirkt
und dort aufgenommen wird. Das ist ja auch wirklich interessant. Aber es
hat im Prinzip keine entscheindungsbeeinflussende Wirkung."
Ein Video zur Single "Torture
Day" ist in diesem Augenblick in Planung. Verhandlungen diesbezüglich
mit Jörg "Nekromantik" Buttgereit sind an dessen Selbstverständnis
als Dienstleistungsbetrieb in solchen Belangen gescheitert (was ich sehr
schade finde), und Kontaktaufnahmen mit Wenzel "Sommer der Liebe" Storch
und Christoph Schlingensief sind leider ebenfalls in die Hose gegangen.
Weiteres ist noch nicht bekannt. Allerdings sind solche Sachen wie Videoproduktion
bei Notwist auch ein recht heikeles Thema, da der eigene Anspruch an dieses
Medium im Vergleich zur Standardkost nicht gerade trivial ist: Möglichst
losgelöst von der Band und bestenfalls auch der Musik sollte es so
eigenständig sein, daß es im Prinzip auch als Film funktionieren
könnte. Eine Herangehensweise, die solche Ausnahmefälle wie das
phantastische "Johnny And Mary"-Video möglicht macht, allerdings die
verantwortliche Plattenfirma gelegentlich auch schon mal in den Wahnsinn
treibt. Apropos: Auch die Veröffentlichungsstrategie zum neuen Album
ist ein wenig komplizierter: Zuerst erscheint die limitierte, superaufwendig
gestaltete "Torture Day"-Single, deren Cover akkordeonmäßig
auseinanderziehbar ist und das auseinandergefaltet ein Comic von Thomas
Ott zeigt. Das Album "12" ist ab dem 29.5.in den Läden, und zwar auf
Vinyl als schicke Doppel-12" und auf CD in 5000er Auflage mit Bonus-CD,
auf der sich eine komplett umarrangierte und dadurch eher Portishead-mäßige
Version von "Torture Day" befindet, bei der unter anderem Cindy Dall von
Smog (!) mitmacht. Die haben nämlich auf ihrer letzten Tour in Weilheim
Station gemacht, um dort im hiesigen Studio ein paar Stücke aufzunehmen.
Wobei jetzt mit 'Weilheim' ein zentrales Schlüssewort gefallen ist:
Das kleine Kaff irgendwo in der Provinz um München genießt ja
seit einiger Zeit sowas wie einen Ausnahme-Status in diesem Land. Denn
wenn man das dortige Musiktreiben mit den meist erbärmlichen lokalen
Szenen anderer Kleinstädte (und auch Metropolen) vergleicht, so bekommt
man doch den Eindruck, daß es sich hier um eine ganz besondere Konstellation
von glücklichen Umständen handeln muß, aus der ein treffsicheres
Gefühl für musikalische Unpeinlichkeiten jenseits von Blues-
und Funkstandards und platter Epigonie resultiert. Warum ist dem so? Markus,
der kürzlich mit seinem Bruder Micha ins benachbarte und um 4000 Einwohner
größere Landsberg gezogen ist ("in die Großstadt"),
hat da eine Hypothese: "Es gibt in Weilheim und Umgebung offenbar eine
äußerst glückliche Ballung von Leuten mit Initiative und
Kreativität. Im Prinzip war es hier bis vor einiger Zeit nicht anders
als in andern Kleinstädten. Es hat alles einfach still vor sich hingedümpelt.
Es gab bei uns allerdings sowas wie einen auslösendes Moment, als
solche Bands wie Notwist, die Schweißer und auch noch ein paar andere,
die sowas wie die erste Generation der Weilheim-Bands bilden, auch überregional
Anerkennung fanden.
Es gab also plötzlich
sowas wie eine kleine, interessierte Öffentlichkeit. Darüber
hinaus haben sich noch alle irgendwie gegenseitig beeinflußt und
befruchtet: Die einen sehen, wie es bei den andern funktioniert, und so
weiter. Dazu kam, daß wir und die Schweißer schon Platte raus
hatten, und sich dadurch der Bezug zum Veröffentlichen an und für
sich verändert hat. Es war nicht mehr etwas besonderes oder exotisches.
Außerdem haben wieder andere Leute angefangen, selber Konzerte zu
organisieren, so daß auch endlich mal internationale Bands in unsere
Gegend kamen. Und dann waren da noch die Slumlords, die hier erstmals seltsam-komplizierte
Musik spielten, und dadurch wiederum die Initialzündung für Potawatomi
gaben, weil wir uns dachten, daß es bestimmt interessant ist, mit
diesen Leuten zusammenzuspielen." Potawatomi sind - wie schon mal
an andere Stelle in diesem Heft vorgestellt - die beiden Acher-Brüder
von Notwist, Teile der Slumlords (von denen in Kürze endlich das Debüt-Album
kommen wird) und der renommierte Jazz-Bassklarinetist Rudi Mahall, der
auch auf "12" mitmacht, und zusammen spielen sie einen wüsten Free-Schlürf,
der John Zorn garantiert gefallen würde. Am 20.5., also noch bevor
"12" in den Läden steht, gehen Potawatomi wieder ins Studio, um dort
den Nachfolger zum gigantischen "The Last Funeral" aufzunehmen. Und dann
gibt es natürlich auch Village Of Savoonga noch, die hauptsächlich
aus Markus Acher, Christoph Merk und Wolfgang Petters bestehen, deren Besetzung
aber irgendwie nach oben offen ist. Auf deren Debüt befinden sich
unter anderem zwei Songs, die später auch im Notwist-Kontext Verwendung
fanden, allerdings in schwer modifizierten Versionen. Außerdem treten
V.o.S. auch gelegentlich als mitunter zwölfköpfige Band auf,
um während der Aufführung zu F.W. Murnaus Stummfilmklassiker
Nosferatu einen Soundtrack zu improvisieren. Im Oktober gehen sie damit
mal wieder auf Tour. Darüber hinaus hat der offensichtlich hyperaktive
Markus Acher kürzlich auch noch eine Solo-Doppel-7" unter dem Namen
Rayon (Name geklaut von Jules Vernes Un Rayon Verte, ein Buch, das ihn
nach eigenen Aussagen verfolgt) rausgebracht, auf der wunderschöne
Akustik-Lo-Fi-Dinger gleichberechtigt neben merkwürdigen Soundkollagen
stehen. Ach ja, und natürlich spielt auch sein Bruder Micha noch in
einem anderen Projekt mit, welches Ogonjok heißt, wobei ich nicht
die geringste Ahnung habe, was für Musik die machen. Ich weiß
nur, daß Micha dort Posaune (!) bläst. All diese Bands und noch
viele andere mehr, die ich hiermit mal eben komplett schwer empfehlen möchte,
veröffentlichen ihre Platten auf den drei Weilheimer Labels Hausmusik,
Kollaps und ICL, die sich alle weitgehend der Dokumentation der lokalen
Szene verschrieben haben (die Palace Brothers-Single auf Hausmusik bildet
da eine kleine, erste Ausnahme) und ihre Produkte (alle Vinyl-only) unglaublich
aufwendig und liebevoll gestalten. Wen das musikalische Treiben 'dort unten'
interessiert, dem sei hier das große, zweitägige Weilheim-Festival
am 23./24. Juni nawowohl ans Herz gelegt. Dort werden sich nämlich
neben heimischen Größen wie Notwist, Fred Is Dead, den Slumlords,
den Borrowed Tunes, Village Of Savoonga, Toxic und den live angeblich unglaublichen
Trash Can Trasher (letztes Konzert ever) auch die genialen Münchener
von Couch sowie Sharon Stoned (mit Schneider) die Ehre geben. Und wenn
letztere schon mal da sind, wird es bestimmt auch wieder ein kleines Family
Affair-Stelldichein geben.
Womit wir bei noch einem
Notwist-Nebenprojekt angekommen wären (das letzte für heute).
Angefangen hat hier alles in einem Büro einer Konzert-Agentur, die
für die Touren von Notwist, Hip Young Things, Locust Fudge etc. verantwortlich
ist. Hier kam ein junger Mann auf die Idee, die Acher-Brüder, Krite
(Speedniggs, Sharon Stoned, Lucust Fudge), Schneider (Hip Young Things
und auch Locust Fudge) und die beiden Briten von Big Ray, die sich alle
gegenseitig vorher nicht persönlich kannten (ja, bis auf die Achers),
doch mal aufeinander loszulassen und danach zusammen auf Tour zu schicken.
Was anfangs bei den Beteiligten eher mit mäßiger Begeisterung
aufgenommen wurde, erwies sich dann doch als sehr gute Idee, denn da kamen
Töpfe und Deckel zusammen, die perfekt aufeinander paßten. Na
ja, mit einer kleinen Ausnahme. Markus: "Das Zusammenarbeiten hat mit Krite
und Schneider phantastisch funktioniert, wobei es mit den beiden Big Rays
lediglich O.K. war. Für mehr waren die musikalischen Vorstellungen
einfach viel zu konträr. Die wollten eher konventionellen Rock mit
ganz langen Gitarrensoli, also im Prinzip all die Sachen, die wir immer
vermeiden wollten. Auf der Tour war das in Ordnung, aber darüber hinaus
hat es mit Krite und Schneider doch mehr Sinn und Spaß gemacht, auch
was gegenseitige Beeinflussung angeht." Genau letzteres wird auch ganz
deutlich, wenn man die klaren Parallelen in den neueren Entwicklungen von
Locust Fudge und Notwist betrachtet. Denn bei beiden ist eine wie auch
immer geartete Abkehr von anfänglicher Konvention hin zum freien Experiment
innerhalb gegebener Songstrukturen offensichtlich. Obwohl über einen
Family Affair-Tonträger seit längerem laut nachgedacht wird,
ist da noch nichts richtig amtlich. Wahrscheilich wird man sich nach dem
Weilheim-Festival für einige Tage ins Tonstudio vor Ort begeben, "um
mal ein bißchen was aufzunehmen". Es existiert auch noch eine Liveaufnahme
von der Tour letzten Jahres, aber mit der ist keiner so richtig glücklich,
so daß sie bestenfalls mal als Cassette in kleiner Stückzahl
veröffentlicht werden wird. Außerdem müssen erstmal neue
Songs her, denn das F.A.-Tourrepertoir bestand ja doch größtenteils
aus Stücken, die die Beteiligten aus ihren anderen Bands mitgebracht
hatten.
Ach ja, hätte ich fast
vergessen: Neben all diesen Projekten haben Markus und Micha jetzt auch
noch angefangen, Musik für Theateraufführungen zu komponieren.
Erstmals geschah dies bei einer Inzenierung eines Stückes des Belgischen
enfant terrible Jan Fabre, für welche sie Tapes mit Soundcollagen
angefertig haben, und demnächst werden sie wohl für eine andere
Aufführung die Theatermusik für ein Strechquartett (!) schreiben.
Und zu der Zeit werden auch erstmals Kopien von "12" in japanischen, englischen
und evtl. auch amerikanischen Plattenläden stehen. Markus: "Die Idee,
Platten im Ausland zu veröffentlichen, ist mir igendwie ein wenig
zu abstrakt, als daß es mir richtig was bedeuten könnte. Es
sei denn, es geschieht auf einem Label, das ich schon kenne und das ich
mag. Aber ich fand es schon aufregend, in England aufzutreten. Wir sind
da vorher nämlich noch nie gewesen. Und es war wirklich komisch, vor
lauter Leuten, die Englisch sprechen, auf Englisch zu singen, obwohl man
die Sprache eigentlich gar nicht so richtig beherrscht bzw. sich nicht
richtig verständigen kann. Aber auf Deutsch singen ist für mich
irgendwie außer Reichweite."
Infos über das Weilheim-Festival
und über die oben besprochenen Bands sowie ihre Platten gibt es bei
einer dieser Adressen. Da es in Weilheim offensichtlich kein Konkurrenzdenken
gibt, reicht es, an eine davon zu schreiben:
Hausmusik c/o Wolfgang Petters
/ Salzgasse 144 / 86899 Landsberg / Tel. 08191/33729
Kollaps c/o Christoph Merk
/ Zotzenmühlenweg 1 / 82362 Weilheim / Tel. 0881/63524
Vielen Dank an:
Carsten la Tendresse
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